Ein zukunftsfähiges Lebenskonzept: Abschied vom Wachstumswahn

Das neue Buch von Meinhard Miegel: „Exit: Wohlstand ohne Wachstum“, Propyläen, 2010

In Zusammenarbeit mit der Freiburger Denkfabrik und dem Colloquium politicum der Universität Freiburg hat der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel Anfang Juni sein neues Buch „Exit: Wohlstand ohne Wachstum“ dem Freiburger Publikum vorgestellt. Der Autor hat sich mit dem Begriff „Wachstum“, welcher seiner Auffassung nach die Grundlage der westlichen Wirtschaft bildet, kritisch auseinandergesetzt.

Die von Miegel vorgenommene Analyse will aufzeigen, wie sich die Geschichte der westlichen Gesellschaft so entwickelt hat, dass unser Begriff von Wohlstand untrennbar mit wirtschaftlichem Wachstum verknüpft ist. Seiner Auffassung nach ist das Phänomen des Wachstums, in unserer ökonomisch geprägten, abendländischen Kultur, allzu wichtig geworden, obwohl wir uns dessen nicht vollumfänglich bewusst sind – eben weil die fraglose Orientierung an wirtschaftlichem Wachstum die eigentliche Ideologie unserer Gesellschaft sei.

Wenn man hingegen wagen würde, zu denken, dass die Verbindung zwischen individuellem und gesellschaftlichem Wohlstand einerseits und der Erschaffung von materiellem Reichtum andererseits nicht fraglos so sein müsste, dann würde dies, so der Autor, eine neue Perspektive bedeuten, die ein radikales Umdenken nach sich zieht. Sind Wachstum und materielle Wohlstandsmehrung der Maßstab, an dem alles gemessen werden muss? Wie ist das möglich gewesen? Kann dies folgenlos bleiben? Und wie lange wird das noch sein dürfen?

Die jüngste Finanzkrise und ganz allgemein die aktuelle Zeit wirtschaftlicher Schwierigkeiten, versteht der Sozialwissenschaftler als eine Gelegenheit, um über die Entwicklung unseres wirtschaftlichen Systems nachzudenken. In diesem Zusammenhang rät Miegel zu beachten, dass die Geschichte „in gewaltigen Pendelbewegungen verläuft, dass auf goldene Zeitalter regelmäßig eiserne folgen“. Wir sind der Vorstellung des Niedergangs entwöhnt, sollten aber dennoch nicht vergessen, dass man mit Zeiten wirtschaftlichen Stillstands oder Rückgangs rechnen muss. Die aktuelle Krise zeigt uns außerdem auf, dass die Richtung, welche die westliche Gesellschaft genommen hat, falsch ist und zu einem Kollaps des gesamten Systems führen kann. Eine Reaktion auf die Ursachen, die dazu geführt haben, wäre nicht nur wünschenswert, sondern auch unentbehrlich und dringend.

Der Mensch lebt in einem labilen Gleichgewicht auf der Erde: Das Aktuelle ist nicht lange zu halten und ein Neues wird sich durchsetzen. Die Wohlstandsexplosion der neueren Geschichte war einzigartig und u. a. ging man, im Zuge der Industrialisierung, definitiv von einem intelligenten Gebrauch zu einem rigorosen Verbrauch der Natur über. Der Mensch hat seine Fähigkeiten entwickelt und seine Grenzen erreicht, zuerst in einem Anpassungsprozess an die Welt, in dem die Natur zu beschädigen als Frevel empfunden wurde. Später jedoch ging der Mensch dazu über, in die Welt einzugreifen und diese zu verändern. Diese Ausführungen greifen auf bekannte Weise auf die Argumente der Endlichkeit der Naturressourcen zurück und der Autor berichtet, gestützt auf eine beträchtliche Menge von Daten, über unseren Verbrauch von Rohstoffen. Die Luft, das Wasser, das Land dürfen nicht als Ware betracht werden, insoweit sie als Lebensbedingungen des Menschen auf der Erde zu betrachten sind.

Die Stärke von Miegels Werk besteht darin, dass er diesen an sich nicht originellen Betrachtungen eine Analyse einiger Aspekte der Gesellschaft hinzufügt, sodass sich nachvollziehen lässt, dass die aktuelle Lage ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit darstellt, welcher durchaus eine Gefahr aber auch eine echte Chance für diese bedeuten könnte. Das Bild wird nämlich komplexer, wenn Faktoren wie demographische Herausforderungen, die Probleme der Migration, die neuen Altersgrenzen der Bevölkerung, die Rolle der sozialen Sicherungssysteme in den öffentlichen Haushalten und die Organisation der Arbeit beachtet werden. Und sie alle zusammenzuführen ist etwas, das Miegel hervorragend vollzieht.

Die Bilanz lautet schroff: „die in den frühindustrialisierten Ländern dominierenden Wirtschafts- und Lebensformen verursachen Probleme und haben sich ad absurdum geführt“; Das Vertrauen in die Beständigkeit des Bestehenden ist eine Form der menschlichen Hybris, die wir uns nicht leisten dürfen; kein Wachstum wird mehr möglich sein und damit auch keine immerwährende materielle Wohlstandsmehrung. Was folgt daraus?

Die Antwort heißt, dass wir unser gestörtes Verhältnis zu den materiellen und immateriellen Grundlagen unserer Existenz verändern sollten. Denn Miegel arbeitet heraus, dass unsere primären Bedürfnisse weitestgehend Befriedigung finden; dass unsere privilegierte westliche Gesellschaft ein hohes materielles Wohlstandniveau erreicht hat; und dass unbegrenztes materielles Wachstum ohnehin nicht möglich ist. Demgegenüber schlägt er vor, dass wir unsere Lebenszufriedenheit vielmehr von nicht materiellen Quellen abhängig machen sollen. Und insofern verlagert er seine Analyse von einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskussionsebene auf eine ethische – auf eine Weise, die die Menschheit in ihrer Ganzheit auf den Plan ruft, verbunden mit der Fragestellung darüber, was im Leben wichtig und erstrebenswert ist. Da also unser materieller Lebensstandard nicht mehr steigen, sondern eher sinken wird, soll unsere Gesellschaft einen neuen, einen menschenspezifischen Wohlstand finden.

Was das bedeuten kann, bleibt eine offene Frage, und es ist ein besonderes Verdienst von Miegels Werk, diese herausgearbeitet zu haben. Der Autor zeigt mögliche Richtungen für Lösungen auf, was Themen wie die Umverteilungspolitik, den Sozialstaat, die Rolle der Bildung usw. betrifft. Die Tragweite und Wichtigkeit seiner Gedankengänge ist indessen enorm sowie auch die darin eingeschlossenen Herausforderungen. Die Prioritätensetzung auf diesem Weg bleibt jedoch eine Aufgabe, die der Politik sowie dem Gewissen des Individuums zu überlassen sind.

Ein neues Gleichgewicht wird unvermeidbar gefunden werden. An diesem Prozess sollen wir aber bewusster teilnehmen, ohne die Verantwortung, die wir den nächsten Generationen gegenüber haben, zu vergessen.


Artikel von:  Alessandro Dall´Acqua