Ein Ort, an dem die Vertreibung durch die NS-Diktatur sichtbar gemacht wird: Das Exilmuseum in Berlin und prägnante Bücher zum Thema

Harry Graf Kessler notierte am 20. Februar 1933 in sein Tagebuch, er habe mit dem ehemaligen Staatssekretär Wilhelm Abegg über die politische Lage gesprochen, der ihn und andere warne, es bestünden bereits Listen von zu verfolgenden Personen. Heinrich Mann ordnete das Notwendigste und reist am 21. Februar ab, ohne auffälliges Gepäck, über Frankfurt und Kehl nach Straßburg; er sei in Sicherheit meldet er seinem französischen Freund Felix Bertaux. Sechs Tage später wird in Berlin der Reichstag brennen, eine brutale Verhaftungswelle der Gestapo beginnt. Erich Maria Remarque war bereits am 29. Januar mit dem Auto in die Schweiz gefahren, am 30. saß Joseph Roth im Zug nach Paris. Diesen ersten barbarischen Monat der Nazidiktatur hat Uwe Wittstock mit seiner Recherche „Februar 33. Der Winter der Literatur“ rekonstruiert, aus zeitgeschichtlichen Dokumenten, Tagebüchern und Briefen von Emigranten.

Die zu integrierende Portalruine des Anhalter Bahnhofs © Stiftung Exilmuseum Berlin

Standort und Architektur
Zwar gibt es das Exil-Archiv in Frankfurt und etwa das Helen und Kurt Wolff-Archiv in Marbach. Doch bis heute fehlt in Deutschland ein zentraler Ort, an dem die Vertreibung durch die NS-Diktatur sichtbar gemacht wird. Deshalb wurde 2018 in Berlin die Stiftung Exilmuseum als bürgerschaftliche Initiative gestartet, mit Gründungsdirektor Christoph Stölz, deren Ziel es ist, ein Museum zum Thema Exil 1933–1945 einzurichten. In der künftigen Institution soll neben der Vermittlung historischer Zusammenhänge auch der „Inhalt des Wortes Exil begreifbar gemacht“ werden sowie seine Relevanz für unsere Gegenwart, sagt Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, die mit Joachim Gauck die Schirmherrschaft übernommen hat. Öffentlichkeit, Politik und Verwaltung unterstützen das Vorhaben, sodass das Exilmuseum auf einem bezirkseigenen Grundstück im Kontext eines Baudenkmals entstehen kann, der Portalruine des ehemaligen Anhalter Bahnhofs am Askanischen Platz. Von hier aus brachen viele Verfolgte auf, um ins Ausland zu fliehen. Der Bahnhof steht zugleich für das Schicksal jener, denen die Flucht nicht gelang, diente er doch später als Deportationsbahnhof.
Zur Realisierung des Museumsgebäudes hatte die Stiftung Exilmuseum einen internationalen Wettbewerb ausgelobt und sich für das architektonische Konzept des Büros Dorte Mandrup aus Kopenhagen entschieden, das den inhaltlichen, räumlichen und städtebaulichen Anforderungen des Projekts gerecht wird. Wichtiger Bezugspunkt auf dem Areal ist die zu integrierende Portalruine des Anhalter Bahnhofs. Geplant sind über 3.500 m² Nutzfläche für Museumszwecke sowie Räume für Kulturveranstaltungen. Die Eröffnung ist für 2026 geplant.

„Werkstatt Exilmuseum“ und Bibliothek
Bereits im Frühling 2023 wird jedoch die „Werkstatt Exilmuseum“ gestartet. Neben dem Stiftungsbüro beherbergt sie ein Labor zur partizipativen Weiterentwicklung der Dauerausstellung und ist Ort für Workshops und andere Zusammenkünfte. Hier bekommen Interessierte Einblick in die Planung des Gebäudes und die Erarbeitung von Museumsinhalten und können sich einbringen. Das Exilmuseum wird auch eine Bibliothek aufweisen; diese erhielt kürzlich einen bedeutenden Neuzugang, nämlich die Sammlung von Andreas Landshoff, Sohn des legendären Verlegers Fritz Landshoff, der nach seiner Flucht 1933 in Amsterdam die Exil-Abteilung des Querido-Verlags aufbaute – mit Autor*innen wie Klaus und Thomas Mann, Anna Seghers und Lion Feuchtwanger. Andreas Landshoff (1931-2021) überlässt dem Museum über 600 Bücher, darunter Erstausgaben aus den Exilverlagen Querido, Allert de Lange und Bermann-Fischer. Für die verfolgten Autoren waren diese damals ein Lichtblick, in dem befreundete Wege wenigstens für kurze Zeit wieder zusammenliefen.
• „Februar 1933. Der Winter der Literatur“

Der Monat Februar 1933 war der Zeitpunkt, in dem sich für regimekritische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler in Deutschland alles entschied. Machtkämpfe, Intrigen und Terror markieren das Ende der Weimarer Republik und Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar. Nun folgten zwölf Jahre düsteres Geschehen, der Rechtsstaat war abgeschafft. Das Sachbuch „Februar 1933. Der Winter der Literatur“ von Uwe Wittstock handelt von eben dieser Extremsituation und dokumentiert im Detail, was nun in der Literatur- und Künstlerszene nun geschah? Viele waren schon auf der Flucht, als SA, SS und Polizei Jagd auf Sozialdemokraten, Juden und missliebige Intellektuelle machte. Sie drangen in Wohnungen ein, zerschlugen Mobiliar, beschlagnahmten oder verbrannten Manuskripte und Bücher, etwa in der Künstlerkolonie am Laubenheimer Platz. Wer in das Columbiahaus und andere Foltergefängnisse eingeliefert wurde, kam selten lebend heraus. Die auf der Abschussliste stehenden Intellektuellen begegneten dem teils mit Galgenhumor. Heinrich Mann zieht sich kampflos aus der Preußischen Akademie zurück, Käthe Kollwitz kommt dem Ausschlussverfahren zuvor; Alfred Döblin bleibt standhaft, während Gottfried Benn Hitlers Machtantritt begrüßt. Manche wollten es kaum wahrhaben, doch sie mussten reagieren; Überfälle, Folter, Berufsverbote und Schießbefehle waren an der Tagesordnung, immer mehr Personen verlorenen die Grundlagen ihrer Existenz. Im April 1933 erfolgte der erste „Judenboykott“, die Gleichschaltung der Universitäten mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“; es beginnt eine brutale Abrechnung mit der Freiheit des Wortes, die am 10. Mai in die Bücherverbrennung mündete. Auf einer ersten Liste standen 131 Autoren „undeutschen Geistes“, die den Flammen zu übergeben sind, von Heinrich Heine über Wedekind, Kafka, Hesse und Brecht bis Stefan Zweig. Bis Kriegsbeginn verließen eine halbe Million Intellektuelle, Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller Deutschland und Österreich. Im Exil versuchten sie zu handeln, wenn noch möglich. Am 10. Mai 1934 eröffnete Alfred Kantorowicz in Paris die „Deutsche Freiheitsbibliothek“, auch als „Bibliothek des verbrannten Buches“ bekannt.
Uwe Wittstock beschreibt die Ereignisse im Februar 1933 Tag für Tag, geht den Wegen von Brecht, Döblin, Thomas Mann, Hilde Domin, Nelly Sachs, Annette Kolb, Konrad Merz und Walter Hasenclever nach, auch denen von Tergit, Tucholsky, Kaléko, Zuckmayer, Fallada und Lasker-Schüler, die von einem Schlägertrupp belauert wurde. Der Anhalter Bahnhof war ein Inferno, man versuchte im Gedränge unbemerkt zu bleiben, um nach Wien, Prag oder Paris zu entkommen. Meist war dies der Auftakt zu einem langen Leidensweg, wenn das Überleben überhaupt gelang. Wittstock konnte nicht alle Betroffenen beleuchten, hat aber eine prägnante Auswahl getroffen und ein fulminantes „Tatsachenmosaik“ erstellt.
• „Der Riss der Zeit geht durch mein Herz“

Unvergessliche Porträts von Emigranten und Fluchthelfern, die ihren Weg begleitet haben, darunter Walter Mehring, Ödön von Horvath, Joseph Roth und Varian Fry, der „Engel von Marseille“, enthalten auch die dramatischen Lebenserinnerungen von Hertha Pauli (1906-1973); erstmals 1970 erschienen wurden sie jetzt neu aufgelegt. Pauli beschreibt die Zeit ab 1938, der bereits zahlreiche Erschütterungen und Brüche vorausgegangen waren. Nach der Machtübernahme in Deutschland, wo sie in Berlin bei Max Reinhard arbeitete, begab sich Hertha Pauli nach Wien und gründete dort eine literarische Agentur, die verfolgte Autoren vertrat. Der „Anschluss“ 1938 zwingt erneut zur Flucht; mit dabei waren der Schriftsteller Walter Mehring, bereits 1933 aus Berlin nach Wien geflohen, Franz Werfel mit Ehefrau Alma Mahler sowie Karl Frucht, Paulis Mitarbeiter in der Agentur. Risikoreich begeben sie sich über Zürich nach Paris; dort treffen sie Joseph Roth und andere Schicksalsgenossen, die allesamt schutz- und orientierungslos auf sich gestellt sind. Gleichzeitig ein Schock nach dem anderen: der Einmarsch in die Tschechoslowakei, das Entsetzen, als Ödön von Horváth bei Gewitter von einem Ast erschlagen wird, schließlich der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, Flucht nach Südfrankreich, die Internierung von Freunden, Selbstmorde und schließlich die Rettung durch Varian Frys Emergency Rescue Committee über Spanien und Portugal in die USA. Die historische Dramatik ist ohne Effekthascherei beschrieben, knapp und authentisch. Verluste stehen neben hilfreichen Zufällen, insbesondere durch die französische Zivilgesellschaft und eine ergreifende Liebesgeschichte mit Gilbert. In späteren Jahren pendelte Hertha Pauli zwischen New York, Wien und Frankreich und ringt sich den autobiographischen Bericht „Der Riss der Zeit geht durch mein Herz“ ab, der ahnen lässt, was es bedeutet hat, über Jahre von den geschichtlichen Ereignissen gejagt zu werden. Ein Buch, das Augen öffnen kann.

Warum brauchen wir das Exilmuseum?
Nur wenige kehrten aus dem Exil zurück oder erst nach langer Odyssee. Die in NS-Deutschland gebliebenen Bürger*innen pflegten oft Ressentiments gegen sie, zumindest interessierte man sich für viele vor den Nazis Geflüchtete nach dem Krieg wenig; Thomas Mann oder Anna Seghers sind Ausnahmen. Tausende andere Gegner des Systems, deren Leben bedroht war, sind ebenfalls emigriert oder geflüchtet, nach Frankreich, England, USA, Türkei, China oder Japan. Remigranten wie Alfred Döblin, Klaus Mann oder Hans Habe, „Umerzieher“ in US-Diensten, wurden angefeindet und verließen Deutschland wieder. Selten gab es die Aufforderung zur Rückkehr; denn für die Dagebliebenen waren die (jüdischen) Emigranten und Deportierten ein Stachel im Fleisch. Daran wird das „Exilmuseum“ erinnern, aber sich gewiss auch mit politisch Verfolgten heute beschäftigen, darunter Schriftsteller*innen und Journalist*innen, die in der Bundesrepublik ein Recht auf Asyl genießen. Denn was geschieht mit ihren Texten und Reden? Wer könnte sie archivieren, wenn ihre Herkunftsländer dies nicht tun? Eine internationale Tagung „Archiv­asyl“ im Literaturarchiv Marbach, an der auch Herta Müller – Schirmherrin des Exilmuseums – beteiligt war, ging dieser Frage Ende Oktober dieses Jahres nach. In aktueller und historischer Hinsicht bleibt viel zu tun.

www.stiftung-exilmuseum.berlin/de
• Uwe Wittstock: „Februar 33: Der Winter der Literatur“. C.H. Beck, München 2021
• Hertha Pauli. „Der Riss der Zeit geht durch mein Herz“. Zsolnay Verlag 2022

Bildquellen

  • Die zu integrierende Portalruine des Anhalter Bahnhofs © Stiftung Exilmuseum Berlin: © Stiftung Exilmuseum Berlin
  • Die Stiftung Exilmuseum hat sich für die Realisierung des Exilmuseums für das architektonische Konzept des Büros Dorte Mandrup aus Kopenhagen entschieden: © Dorte Mandrup/MIR