Ein Liebesbrief vom Posaunisten

Eine musikalische „Ariadne auf Naxos“ eröffnet die Winterfestspiele Baden-Baden

Minotaurus verschleppt Ariadne (Renée Fleming)

Der Gesang wird immer intensiver, das Orchester entfaltet noch mehr Leuchtkraft – dann verlieren die ersten weißen Stühle ihre Bodenhaftung. Eben noch haben die Gäste des „reichsten Mannes in Wien“ darauf gesessen, um die Oper „Ariadne auf Naxos“ kurz vor dem Feuerwerk zu goutieren. Nun schweben die Stühle zum Schnürboden des Festspielhauses Baden-Baden hinauf. Im Hintergrund hat Regisseur Philippe Arlaud einen spektakulär schönen Abendhimmel auf die Bühnenwand projiziert. Die Zeit bleibt stehen beim von Renée Fleming (Ariadne) und Robert Dean Smith (Bacchus) berückend gesungenen Finale, die Schwerkraft ist aufgehoben. Die Sächsische Staatskapelle Dresden zaubert unter ihrem designierten Chefdirigenten Christian Thielemann das passende Pathos: streichergetränkt, transparent, mit vollendeter Phrasierung.
Dieses Schlussbild bleibt im Kopf – und im Ohr. Die Staatskapelle Dresden ist auch und gerade in der Kammerorchesterbesetzung, die Strauss für seine „Ariadne“ vorschreibt, ein Glücksfall. Dabei wird der Klangkörper von Thielemann sehr gefordert, besonders im Pianospiel. Da kommt der Solohornist schon mal ins Schwitzen (und Kieksen), weil er seine kantablen Linien nicht im sicheren Mezzoforte spielen darf. Wenn das Pianissimo aber gelingt, was  meistens der Fall ist, dann entstehen musikalische Momente, die man so schnell nicht vergisst – gerade weil man sie so noch nie gehört hat. Im Vorspiel, in dem Richard Strauss auf engstem Raum zwischen Dramatik und Komik hin- und herswitcht, trennt Thielemann messerscharf zwischen den beiden Sphären. Die schnellen Wechsel korrespondieren dabei mit der punktgenauen Lichtregie – wie überhaupt Arlauds ästhetische, am Ende vielleicht auch den Kitsch streifende Inszenierung eine musikalische ist.
Regisseur Philippe Arlaud hat ein weißes, abstraktes Bühnenbild gebaut, dessen geschwungene Wände bereits Bewegung in das verrückte Vorspiel bringen. Die nach hinten gestaffelten Bögen erinnern nach der Pause an eine antike Säulenhalle, die den passenden Rahmen gibt für die zu spielende „Ariadne“.  Farbe bringt Andrea Uhmann in die Kostüme wie in die goldenen Glitzerkleider der betörend singenden Nymphen (Christina Landshamer, Rachel Frenkel, Lenneke Ruiten), die mit dem Goldenen Vlies von Ariadne und Bacchus im Finale korrespondieren. Die vier Liebhaber von Zerbinetta sehen in ihren bunten Clownshosen, schwarz-weißen Ringelhemden, aufgeklebten Schnurrbärten und Melonen vielleicht ein bisschen zu sehr nach Väter der Klamotte aus. Aber die Spielfreude und Musikalität von Harlekin (Nikolay Borchev), Scaramuccio (Kenneth Roberson), Truffaldin (Steven Humes) und Brighella (Kevin Conners) lassen das Klischee erblassen.
Sophie Koch verleiht mit ihrem voluminösen Mezzo der Partie des Komponisten eine emotionale Tiefe, die die Figur ganz aus dem Opernzirkus des Vorspiels herausnimmt. Jane Archibald ist eine Zerbinetta der Luxusklasse, die auch in den vertracktesten Koloraturen in der gefürchteten Bravourarie mit Rezitativ „Großmächtige Prinzessin“ kühlen Kopf, klare Linie und auch ihre perfekte Intonation behält. Selbst für die heikle Partie des Bacchus/Der Tenor konnte das Festspielhaus Baden-Baden mit Robert Dean Smith einen Sänger verpflichten, der im Dauerforte nie schwächelt und die langen Melodielinien härtet. Die in ihrer Phrasierungskunst und Klangfarbengestaltung einzigartige Renée Fleming ist ein Ereignis. Die Staatskapelle Dresden trägt diese Solisten auf Händen. Als Jane Archibald ihre Zerbinetta mit höchster Gesangskunst zelebriert, erhält sie aus dem Orchestergraben einen Liebesbrief, den der Posaunist an den Zug seines Instruments gesteckt hat. Ein schönes Bild für diese Baden-Badener „Ariadne auf Naxos“. Georg Rudiger