Die Philosophin Eva von Redecker entwirft in ihrem Buch „Revolution für das Leben“ gedankliche und praktische Wege zur Überwindung der kapitalistischen Sachherrschaft

Das köstliche Gefühl der Revolution

Im Septemberheft des Kultur Jokers wurde das Buch „Revolution für das Klima“ des Wirtschaftswissenschaftlers Christian Zeller vorgestellt. Auf Basis einer vorwiegend politökonomischen Analyse des kapitalistischen Wirtschaftssystems fordert er darin mit Blick auf die drohende Klimakatastrophe einen radikalen Bruch mit dessen Mensch und Natur grenzenlos ausbeutender Profit- und Konkurrenzlogik. Als Konsequenz sieht er in einer öko-sozialistischen Umwälzung die notwendige Voraussetzung für die Klimarettung, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, den Aufbau rätedemokratischer Strukturen und damit für das Überleben der Menschheit.
Eva von Redecker, wie Zeller in erklärt kritischer marxistischer Tradition, kommt in ihrem Buch zu ähnlichen Ergebnissen, freilich auf ganz anderen Wegen. Gleich in der Einleitung stellt sie klar: Hier geht es um nichts weniger als um „das Leben in einer speziellen Hinsicht: der Befreiung von kapitalistischer Herrschaft.“

Analyse
Dies bleibt bei Redecker kein ideologisches Schlagwort, denn sie analysiert die kapitalistische Systematik und die darauf fußende Gesellschaftsverfassung mit gnadenloser Akribie. Sie zeigt, dass deren elementare Fixierung auf das private Eigentumsrecht an Produktionsmitteln zur Willkür der Kapitaleigner berechtigt. Diese geschützte private Verfügungshoheit zum Zwecke der Profitmaximierung legitimiert ein umfassendes Reich der „Sachherrschaft als Weltverhältnis“. Mensch und Natur sind davon gleichermaßen betroffen. Der Zwang zum unbegrenzten Wachstum führt zum unbegrenzten und somit destruktiven Raubbau an endlichen Ressourcen und zur Ausbeutung der zur Ware reduzierten Arbeitskraft des Menschen.
Diese neuen Besitz- und auch Geschlechterverhältnisse werden in Anlehnung an Karl Marx detailliert historisch hergeleitet – vom bröckelnden Feudalismus und der Abschaffung der Sklaverei über die ursprüngliche Kapital-Akkumulation und die wachsende Entfaltung der Produktivkräfte durch die industrielle Mechanisierung bis heute. Zentrale marxistische Begriffe wie Entfremdung der Arbeit oder der Fetischcharakter der Ware erfahren eine erfrischende Aktualisierung.
Redecker führt in diesem Zusammenhang darüber hinaus einen neuen Begriff – den des Phantombesitzes – ein. Der Zugewinn an Bürgerrechten durch die sich entwickelnde kapitalistische Produktionsweise erstreckte sich im Wesentlichen auf die Männer. Patriarchalische Ehegesetze und Verweigerung wichtiger bürgerlicher Rechte schränkten die Freizügigkeit von Frauen bis weit ins vergangene Jahrhundert drastisch ein. Diese „soziale Sachherrschaft“ wirke trotz rechtlicher Gleichstellung bis heute als unbegründet „verinnerlichter Phantombesitz“, denn nach wie vor obliegt die Aufrechterhaltung des Reproduktionsbereichs faktisch den Frauen. Für den Kapitalisten (und die Männer) fungieren die Frauen dadurch als unbezahlte Dienstleisterinnen. Dieser ungerechtfertigte Phantombesitz manifestiert sich ebenfalls auf vielfältige Weise in der rassistischen Spaltung in Weiß und Schwarz oder gegenüber ethnischen Minderheiten als „Erbpacht der Sachherrschaft“.
Im Anschluss an Hannah Arendts Gedanken in deren Schrift „Vita activa“ konstatiert Redecker gegen Ende ihres Analyseteils einen Verlust der Welt, die es wieder zu gewinnen gilt. Sie resümiert: „Die kapitalistische Wirtschaftsweise…haben wir auf dem Rücken der natürlichen Zyklen errichtet…Aber die von Eigentumsfixierung und Profitorientierung zerstörten Grundlagen sind die Grundlagen jeglicher Zivilisation und sämtlichen Lebens auf der Erde.“ (S. 120) Und sie lässt keinen Zweifel: Für deren Wiederherstellung bleibt nicht viel Zeit und sie kann nur über revolutionären Widerstand und schließlich die Überwindung des Kapitalismus führen.

Aktion (2021) von „Ende Gelände“ zum Braunkohle-Ausstieg
Foto: Hubert Perschke

Revolution für das Leben
Für Redecker stehen die Chancen dafür gar nicht so schlecht, denn sie sieht gerade in jüngster Zeit weltweit ein Erstarken von vielfältigen Protestbewegungen neuen Typs. „Die neuen Formen des Widerstands gehen von einer Mobilisierung für akut bedrohte Leben aus und kämpfen für die Aussicht auf geteiltes, gemeinsam gewahrtes und solidarisches Leben. Eine Revolution für das Leben findet sich in der antirassistischen Mobilisierung gegen Polizeigewalt, im feministischen Kampf gegen Frauenmorde und in der Klimabewegung, die das Schreckbild eines toten Planeten ins Bewusstsein gehoben hat.“
Auf vielen Seiten beschreibt sie Bewegungen wie das anti-rassistische 2013 in den USA entstandene „Black Lives Matter“-Movement oder die mexikanische feministische „NiUnaMenos“ (Nicht eine weniger) gegen Frauenmorde, die beispielgebend auf viele Länder der Erde ausstrahlt. Für die globale Umweltbewegung steht das Aktionsbündnis „Ende Gelände“ als Teil der internationalen Klimagerechtigkeitsbewegung „Climate Justice Now“. All diesen teils militanten Widerstandsformen und Bewegungen gemeinsam ist eine langandauernde, permanent rebellische antikapitalistische Grundhaltung. Sie organisieren dabei nicht nur Widerstand, sondern bemühen sich in ihren Strukturen und Aktionen, auch Grundformen künftiger solidarischer Gesellschaftsorganisation vorwegzunehmen. Exemplarisch dafür zitiert Redecker einen Auszug aus einer Publikation von „Ende Gelände“: „Für uns ist dieser Teil entscheidend. Denn die Art, wie wir uns organisieren, wie wir miteinander umgehen und zusammen handeln, entscheidet nicht nur darüber, wie viel wir verändern können. Er zeichnet zugleich ein Bild davon, wie wir in Zukunft miteinander leben wollen.“ (S.246)
Die Beispiele sollen nicht als Blaupausen fungieren, sondern solidarische revolutionäre Haltungen beschreiben. Ihr Widerstandsverständnis weist weit über tradierte Formen des Arbeits- oder Klassenkampfes hinaus. So kann für Eva von Redecker die unumgängliche Revolution für das Leben nur aus einem Leben für die Revolution entstehen und nicht aus einem wie auch gearteten Umsturzakt. Sie zitiert die schwarze Feministin Francis Beal: „Wir müssen anfangen zu verstehen, dass eine Revolution nicht nur die Bereitschaft erfordert, unser Leben aufs Spiel zu setzen und uns töten zu lassen. In gewisser Weise ist es leicht, sich dazu zu bekennen. Für die Revolution zu sterben ist eine einmalige Angelegenheit; für die Revolution zu leben bedeutet, die schwierigere Aufgabe zu übernehmen, unsere alltäglichen Lebensmuster zu ändern.“
Diese Aufgabe vollzieht sich für Redecker an der Kreuzung zweier Sehnsüchte: „Die eine ist der unbändige Drang nach Befreiung aus der kapitalistischen Herrschaft…und „die Gewalt der Vergangenheit in der Gegenwart unschädlich zu machen“… Die zweite Sehnsucht, die die Revolution für das Leben leitet, vermisst, was sie noch gar nicht kennen kann: eine Welt in der wir pflegen, statt zu beherrschen, teilen, statt zu verwerten, regenerieren, statt zu erschöpfen und retten, statt zu zerstören“. (S.286/87)
Die Erkenntnis, selbst an der Gestaltung künftiger gesellschaftlicher Verhältnisse aktiv mitwirken zu können, stellt sich nach Redecker eher als Erfahrung „im Zuge des Aufbegehrens und der Selbstregierung“ ein. „Freiheit als die Erfahrung, sich gemeinsam einigen und regieren zu können, vergisst sich nicht. Es ist ein einmaliges, köstliches Gefühl, aber auch ein Wissen, hinter das es kein Zurück gibt.“ (S.131)
Hier konnten nur die wichtigsten Grundlinien des Buches beschrieben werden. Realiter ist es noch viel reicher an faktisch-analytischen, philosophischen und praktischen Bezügen zum Thema. Dass es bei durchweg wissenschaftlicher Evidenz auch in bestechend literarischer Qualität geschrieben ist, macht es doppelt lesenswert. Ein Mutmachbuch für den Kampf um eine solidarische Weltwahrung contra kapitalistische Sachherrschaft.
Am Schluss noch ein Zitat aus dem Stück von Bertolt Brecht „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“, welches Eva von Redecker an den Anfang ihres Buches gesetzt hat: „Sorgt nicht, dass ihr die Welt verlassend nur gut wart, sondern verlasst eine gute Welt!“

Das Buch ist im S. Fischer Verlag erschienen und unter der Nummer ISBN 978-3-10-397048-7 im Buchhandel erhältlich.

Bildquellen

  • Die Philosophin Eva von Redecker entwirft in ihrem Buch „Revolution für das Leben“ gedankliche und praktische Wege zur Überwindung der kapitalistischen Sachherrschaft: Foto: S. Fischer
  • Aktion (2021) von „Ende Gelände“ zum Braunkohle-Ausstieg: Foto: Hubert Perschke
  • Nach dem gewaltsamen Tod von Mahsa Amini halten die Proteste im Iran weiterhin an: © Martin Bernetti/AFP