Die Bühne als Revolutionsgemälde

„André Chénier“ begeistert, „Achterbahn“ enttäuscht bei den Bregenzer Festspielen

Umberto Giodanos "André Chénier" begeistert auf der Seebühne in Bregenz; Foto: Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Den Spagat zwischen Kunst und Kommerz – den müssen die Bregenzer Festspiele in jedem Sommer neu schaffen. Die spektakuläre Produktion auf der Seebühne, die pro Abend Platz für rund 7000 Zuschauern bietet, finanziert das ambitionierte Opern-, Konzert-, Theater- und Tanzprogramm des noch bis zum 21. August 2011 dauernden Festivals. In diesem Jahr gelingt  mit Umberto Giordanos „André Chénier“ auf der Seebühne ein großer Wurf. Die Uraufführung von Judith Weirs „Achterbahn“ einen Tag später im Festspielhaus enttäuscht.

Bei in Szene gesetzten „André Chénier“ fällt der Blick auf eine riesige Skulptur, deren Kopf zu Beginn der Oper noch verhüllt ist. Erst als die von Kostümbildnerin Constance Hoffman dekadent eingekleidete adlige Festgesellschaft um die Gastgeberin Gräfin di Coigny (mit selbstbewusstem, farbigem Mezzo: Rosalind Plowright) die Bühne betreten hat, fällt das riesige Tuch. Es ist der radikale, von Jacques-Louis David im Jahr 1794 gemalte Jakobinerführer Jean Paul Marat, der im Bad von einer Adligen getötet wurde. Wenn nun dieser Marat anstatt in seiner Badewanne im Bodensee sitzt und die Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen auf seinem Körper stattfinden, dann gelingt Regisseur Keith Warner und Bühnenbildner David Fielding eine starke Visualisierung der Französischen Revolution. Die sensibel ausgeleuchtete Bühne (Licht: Davy Cunningham) ist ein Gemälde. Ein riesenhafter reich verzierter, leerer Spiegel ragt schräg in den Nachthimmel – das Ancien Régime ist aus den Fugen geraten, das Glas ist zerstört. Auch musikalisch überzeugt die Premiere. Der mexikanische Tenor Héctor Sandoval verleiht der Titelfigur große Ausstrahlung. Auch für Chéniers Liebe zur Adligen Maddalena di Coigny (präsent: Norma Fantini), die am Ende mit ihm gemeinsam aufs Schafott geht, findet er Zwischentöne. Carlo Gérard, einst bester Freund Chéniers, begehrt Maddalena ebenfalls. Scott Hendricks lässt mit seinem wuchtigen Bassbariton keinen Zweifel daran, dass seine Liebe pathologische Züge trägt, wenn er im dritten Akt auf den Treppenstufen übergriffig wird. Es sind diese abrupten Gefühlsausbrüche, die auch immer wieder von den Wiener Symphonikern unter Ulf Schirmer das Geschehen anheizen. Und wenn der Adel tanzt wie im ersten Akt, ist das aufständische Volk nicht weit.
Um große soziale Unterschiede geht es auch in Judith Weirs „Achterbahn“. Eine Familie erleidet den gesellschaftlichen Abstieg. Die Tochter Tina lernt das Leben von seiner dunklen Seite kennen. Die vom sizilianischen Märchen „Sfortuna“ inspirierte, von der Komponistin selbst geschriebene Geschichte entwickelt im Bregenzer Festspielhaus jedoch wenig Spannung. Das Auftragswerk der Bregenzer Festspiele bezieht keine Stellung. Vieles bleibt im Unklaren, manches stirbt in Schönheit. Das liegt auch an der Musik der schottischen Komponistin, die ohne jede Pause durch den Abend mäandert. Judith Weirs neoromantische Tonsprache schenkt den Protagonisten weit ausgreifende, süßliche Melodien. Die Wiener Symphoniker legen unter der Leitung von Paul Daniel den Klangteppich aus. Auch die aufwändige Inszenierung von Chen Shi-Zheng stirbt im Ästhetizismus (Bühne: Tom Pye). Ab und zu taucht der Countertenor Andrew Watts im seltsamen violetten Anzug auf (Kostüme: Han Feng) und gibt als „Schicksal“ seinen süßen Senf dazu. Warum am Ende Tina in dem wohlhabenden jungen Mann Simon ihr Glück findet, weiß wahrscheinlich nur die Komponistin. Aber vielleicht ist es ja der schöne Gesang von Jacques Imbrailo, der Tina verführt.
Georg Rudige