Auf der Berlinale 2022 untersuchte die Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ den Wald als filmischen Raum.

Der Wald ist einer der größten Imaginationsräume im deutschsprachigen Kulturraum. Dass er seit der Romantik als Sehnsuchtsort gilt, ist hinlänglich bekannt, die Romantiker verwebten in ihren kulturellen Erzeugnissen poetische Narrative mit dem Topos der Abgeschiedenheit und der (heilenden oder gefährlichen) Introspektion. Weniger bekannt ist, dass die romantische Stilisierung auf einem breiten ideengeschichtlichen Fundament aufbaute: In der gesamten westlichen Zivilisationsgeschichte wird der Wald als außerzivilisatorischer Bezirk imaginiert. Schon im sumerischen Gilgamesch-Epos, einem der frühesten Schriftdokumente der Menschheitsgeschichte, ist der Wald der Ort des Dämons, den der titelgebende König zu bezwingen sucht, um ewiges Leben zu erlangen. In römischen und germanischen Mythen, der Helden-Epik des Mittelalters, der Robin Hood-Erzählung oder den Grimms Märchen – immer wieder ist der Wald derjenige Ort, der den Mythos beherbergt, in dem sich Gesetzmäßigkeiten verdrehen und in den sich Held:innen verirren, um dann, zurück am Waldesrand, zu sich selbst finden und gereift zurück ins Leben treten zu können. Die Repräsentation des Waldes legt somit als spezifische kulturelle Ausdrucksform Zeugnis über die Imaginationsgeschichte von Gegenräumen ab. Das gilt auch für den Film, wo der Wald seit jeher inszeniert wird, vor allem als Ort des Fantastischen, als Schreckensort oder dessen Gegenstück, dem Idyll. Im Horrorfilm sind die düsteren Wälder die Orte des Grauens (z.B. schon in Murnaus NOSFERATU aus dem Jahre 1922), im Psychothriller die Räume, in dem das Kranke zum Vorschein kommt, wie in Lars von Triers ANTICHRIST und – als deutsches Spezifikum – im Heimatfilm der 1950er-Jahre das Chiffre für eine heile Welt, in der Heimatliebe und klassische Männerbilder nach wie vor möglich sind.
Die Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ der Berlinale, die jungen Filmschaffenden eine Plattform bietet, widmete sich in diesem Jahr dem Wald als Handlungsort. Ein so innovativer wie ungewöhnlicher Schwerpunkt, denn trotz der „Waldliebe“ der Deutschen, ist er in seiner filmischen Darstellung bislang kaum erforscht. Vier Filme präsentierte die Sektion und damit vier Variationen jener gegenräumlichen Inszenierung. In Mareike Wegeners ECHO findet eine von Kriegseinsätzen traumatisierte Polizeikommissarin eine Leiche im Moor. Der vermeintlich unspektakuläre Fall wird kompliziert, als die Ermittlungsarbeit sowohl in die Geschichte des benachbarten Dorfes eindringt und gleichzeitig die individuelle Traumageschichte der Protagonistin berührt. Kollektive und individuelle Schuld werden im Wald enggeführt und spannungsreich problematisiert. Ähnlich Saralisa Volms SCHWEIGEND STEHT DER WALD, in dem Henriette Confurius eine Forstpraktikantin spielt, die im oberpfälzischen Fichtenwald Bodenproben analysiert. Bei ihren Untersuchungen stößt sie auf Unregelmäßigkeiten im Bodenprofil und kommt einem Geheimnis auf die Spur, das dadurch komplexer wird, dass 20 Jahre zuvor ihr Vater in diesem Wald als vermisst gemeldet wurde. In klassischer Whodunit-Manier setzt die Praktikantin ihre nicht mehr nur forstlichen Recherchen fort und gerät damit ins Kreuzfeuer einer abweisenden Dorfgemeinschaft. Auch hier ist der Wald der Ort einer tiefen, kollektiven Schuld, die ihren Sündenfall in der deutschen Geschichte hat.
In gänzlich anderem Tonfall präsentiert sich WIR KÖNNTEN GENAUSO GUT TOT SEIN von Natalia Sinelnikova. In einer dystopischen Versuchsanordnung wird ein Hochaus am Waldrand zum Mikrokosmos für eine Gesellschaft, die sich vor einer mittlerweile unzivilisierten Welt in Sicherheit gebracht hat. Als ein Haustier verschwindet, bekommt das Gefüge Risse, irrationale Angst macht sich breit und die Machtverhältnisse werden neu geordnet. Der Wald ist hier die Hintergrundfolie der Haupthandlung und schafft gleichzeitig die Möglichkeit einer Enklave, in der ein gesellschaftlicher Diskurs von der Außenwelt abgeschieden verhandelt werden kann. Eine besonderes Filmwerk war der zweieinhalbstündige GEWALTEN von Constantin Hatz. In der Abgelegenheit des deutschen Hinterlandes lebt der junge Daniel mit seinem schwerkranken Vater und seinem älteren Bruder. Die Familie betrieb früher einen Gasthof mit Festsaal, doch der steht seit Jahren leer. Zu tun gibt es hier nichts mehr. Die Tage sind gleichförmig und grau, die einzige Ablenkung findet Daniel bei seinen Tieren. Mit dem Fahrrad fährt der Junge täglich durch den Wald zur Schule und entwickelt so eine besondere Beziehung zu diesem Naturraum. Das Milieu ist unkonkret verortet und wird dadurch noch eindeutiger: In dunklen, farbreduzierten Aufnahmen zeichnen Hatz und sein Kameramann Rafael Starmann das Bild einer Gegend, die von Strukturschwäche und Landflucht geprägt ist. Bei den wenigen, die geblieben sind, macht sich Frust und das Gefühl des Abgehängtseins breit. Gewalt ist hier das Ventil: Daniels Bruder pumpt seinen Körper auf, betreibt Gewichtheben und organisiert Hooligankämpfe auf der grünen Wiese. In den Scheunen finden illegale Hundekämpfe statt. Konflikte werden physisch gelöst und Xenophobie offen ausgesprochen. All’ dem widersetzt sich die sensible Hauptfigur schweigend und sucht den Wald als Rückzugsraum auf. Dass der Film mit einem Zitat des Philosophen Novalis beginnt – „Das System der Moral muss das System der Natur werden“ – schließt den Bogen zur Romantik und warnt gleichzeitig davor, das Gesetz des Stärkeren zur gesellschaftlichen Doktrin zu erheben.
Nicht alle Filme waren gleich sehenswert. ECHO rangierte als grotesk überinszeniertes Stück an der Grenze des Erträglichen, SCHWEIGEND STEHT DER WALD merkte man die finanzielle Förderstruktur an – der Film hat das Format eines TV-Films. Sehenswert dagegen Sinelnikovas Dystopie und vor allem GEWALTEN. Dieser Film erfordert aufgrund seiner Länge, der ruhigen Erzählweise und den wenigen Dialogen einiges an Geduld. Am Ende entfaltet er sich jedoch als intensives und ungewöhnlich inszeniertes Sozialdrama, dessen Bilder im Gedächtnis bleiben. Die nach menschlichem Ermessen entschleunigten Zeitläufte des Waldes übertragen sich hier auf wunderbare Weise auf die filmische Erzählung.

Weitere Infos: www.berlinale.de

Bildquellen

  • Gegenraum und Refugium: Der Wald in Constantin Hatz’ GEWALTEN: ©Rafel Starman / Kinescope Film