Im Gespräch: Andre Wolf, Kommunikationsexperte für Social Media, über rechtsradikale Taktiken im Netz

Andre Wolf kennt Social Media und seine Probleme. Als Mitarbeiter der Rechercheplattform Mimikama setzt er sich täglich mit Fake News, Verschwörungsmythen und rechtsextremistischen Inhalten im Netz auseinander. Sein Ziel: Aufklärung und Medienkompetenz schaffen. Nur so könne man dem „Angriff auf die Demokratie“ – so der Titel seines neuen Sachbuchs – begegnen. Unser Mitarbeiter Fabian Lutz hat das Buch gelesen und mit Andre Wolf über Chancen und Risiken von Social Media, rechtsextreme Taktiken im Netz und über den Mythos vom weißen Lieferwagen gesprochen.

Kultur Joker: Hass, Hetze, Verschwörungsmythen. Davon liest man in Ihrem neuen Buch viel. Und all das findet online, auf Social Media statt. War Social Media schon immer ein so gefährlicher, politischer Ort?

Andre Wolf: Grundsätzlich nicht. Ich kann Ihnen aber einen konkreten Zeitraum nennen, in dem sich das änderte: Die Jahre 2013/14. Das war auch die Zeit, in der Social Media besonders populär wurde. Jeder wollte zu diesem Zeitpunkt auf Social Media vertreten sein. Deshalb wandte sich auch die Politik Social Media zu, um uns alle zu erreichen. Dafür gab es die offiziellen politischen Kanäle, aber auch inoffizielle. Dort fand auch viel Manipulation statt.

Kultur Joker: Gab es dafür bestimmte gesellschaftliche Hintergründe?

Andre Wolf: Während der Krim-Krise 2014 sind die Vorwürfe gegenüber einer „Lügenpresse“ zum ersten Mal laut geworden. In diesem Kontext erschienen auch stark antieuropäische Stimmen. Als 2015 viele Flüchtende nach Mitteleuropa kamen, brachten sogenannte „Alternative Medien“ bewusst verdrehte Inhalte oder vollständige Falschaussagen. Später erhielten solcher Meldungen dann häufig einen wahren Kern, der jedoch bewusst falsch interpretiert oder bebildert wurde oder dem ein ganz neuer Frame, ein neuer Bedeutungsrahmen gegeben wurde.

Kultur Joker: Protagonist*innen in Ihrem Buch sind vor allem die sogenannten „ProdUser“: Privatpersonen, die ohne Etikette, Pressekodex oder andere Filter eigene Inhalte verbreiten. Mitteilungen solcher Menschen und deren Quellen sind oft schwer zurückzuverfolgen. Finden wir hier den Nährboden für „alternative“ Berichterstattung und Falschmeldungen?

Andre Wolf: Social Media beginnt bei uns als Nutzerinnen und Nutzern. Im Grunde ist das
eine tolle, demokratische Sache. Wir alle haben eine Plattform, auf der wir Inhalte teilen und frei miteinander kommunizieren können. Das Problem ist nur, dass die Mechanismen von Social Media ermöglichen, dass diese Funktionen auch missbraucht werden können. Manipulierte Berichterstattung beginnt auch bei Privatpersonen, die Tatsachenberichte mit ihrer persönlichen Meinung mischen. Die Empfänger solchen Nachrichten wissen oft nicht, wer der eigentliche Absender, die Person dahinter ist. Da fehlt oft grundlegende Medienkompetenz und auch das Wissen, wie ich seriöse Medien von Kommentaren, die nicht als solche markiert sind, unterscheiden kann.

Kultur Joker: Viele der problematischen Fälle funktionieren im Modus der Warnung, wie Sie in Ihrem Buch anschaulich beschreiben. Von ProdUsern wird vor etwas gewarnt, das noch nicht eingetreten ist, die Empfänger*innen trotzdem in Alarmbereitschaft setzt. Siegt hier die menschliche Emotion vor der Vernunft?

Andre Wolf: Absolut. Das ist ein Phänomen, das wir schon lange beobachten. Hier entstehen ganze Phantomdiskussionen. 2014 haben wir das zum ersten Mal bemerkt, als die Warnung vor einem „weißen Lieferwagen“ auf Social Media kursierte. Ein weißer Lieferwagen sei in den Nachbarschaften unterwegs und entführe Kinder. Da immer und überall weiße Lieferwagen unterwegs sind, haben sich viele Menschen gleich bestätigt gefühlt. Die Geschichte dahinter war falsch, aber die Erzählung war für die Menschen plausibel. Das nennen wir ein plausibles Narrativ, eine sinnstiftende Erzählung, die überzeugend wirkt.

Kultur Joker: Das andere Element der Erzählung sind die gefährdeten Kinder. Das schürt schnell tiefe Ängste, gerade bei Eltern.

Andre Wolf: Ja. Die Erzählung funktionierte auch deshalb so gut, weil sich viele Menschen davon betroffen fühlten. Das nennen wir Betroffenheitslage. Ist die weitreichend genug, was
im Falle von Eltern kleiner Kinder der Fall ist, neigen Menschen eher dazu, einer solchen Warnung zu glauben. Das, gepaart mit Angst, reizt betroffene Eltern schließlich dazu, auch andere Eltern zu warnen.

Kultur Joker: Ein Teufelskreis.

Andre Wolf: Gegenseitig bestätigt man sich, einen weißen Lieferwagen gesehen zu haben. Eine solche dynamische Entwicklung konnten wir tatsächlich verfolgen. Den Ursprung hatte die Geschichte im April 2014 in Duisburg und Essen, verbreitete sich mit der Warnung vor einer Organmafia dann in ganz Deutschland. Ein Problem war damals, dass die Polizei auf Facebook noch nicht wirklich aktiv war. Erst als die Polizei als oberste Instanz eingegriffen und die Sache richtiggestellt hatte, war die Meldung als „Fake“ akzeptiert. Das war dann nahezu rechtsgültig.

Kultur Joker: Wie kommt so eine Erzählung zustande? Stehen dahinter nur besorgte Eltern oder Menschen mit der Agenda, Angst zu schüren?

Andre Wolf: Hinter diesen Erzählungen müssen keine bösen Motive stecken. Vielleicht hat jemand eine Situation nur falsch verstanden, mit einem falschen Narrativ verknüpft und dann aus Betroffenheit und Sorge heraus weitergegeben. Es ist aber auch gut möglich, dass jemand diese Nachricht bewusst verbreitet hat, um Angst zu schüren. Die Botschaft ist dann: „Wir sind hier nicht sicher.“ Dann haben wir es mit einem gefährlichen Narrativ zu tun.

Kultur Joker: Für die Empfänger*innenseite wird es vermutlich schwierig sein, einer so starken Emotionalität noch mit Fakten beizukommen. Im Buch verwenden Sie dafür das Bild der „Löwenmutter“, die ihr Kind verteidigen möchte und entsprechend aggressiv auf Aufklärungsversuche reagiert. Wie gehen Sie damit um?

Andre Wolf: Im ersten Moment erreiche ich diese Menschen gar nicht, da gibt’s nur Prügel. Wenn es um den Schutz eines geliebten Kindes geht, kann man nicht mehr argumentieren. Auch bei Verschwörungsnarrativen ist es auch nahezu unmöglich, dem Fakten gegenüberzustellen. Wir müssen also unseren Modus ändern und die Fakten selbst erzählerisch vermitteln. Wir müssen eine Erzählung zu den Fakten schaffen, die einprägsam ist. Dabei geht es nicht um Erfindung, sondern darum, etwas so plausibel zu erklären, dass es auch im Kopf bleibt.

Kultur Joker: Kann man gegen Falschnachrichten nicht auch juristisch vorgehen?

Andre Wolf: Solange Menschen damit nicht direkt bedroht werden, bewegen sich Falschmeldungen im juristisch legalen Rahmen. Das wissen viele nicht: Lügen an sich ist nicht verboten. Die Frage ist auch: Wer klagt im Falle eine Falschmeldung? Wenn die Falschmeldung kursiert, Flüchtlinge bekämen alle ein Gratis-Smartphone, wer will dann klagen? Die Flüchtlinge als Gruppe können jedenfalls nicht klagen. Parteien wie die AfD arbeiten noch dazu sprachlich viel feiner und entgehen so einer Strafverfolgung. Dort heißt es nicht „Der Islam ist schlecht“, sondern „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“. Solche Parteien verschieben die Grenze des Sagbaren und wissen, dass ihre Anhänger diese Grenzen noch weiter verschieben.

Kultur Joker: Mit der AfD sind wir bei den Themen Neue Rechte und Rechtsextremismus angelangt. Ihr Buch beschreibt die schwierige Aufgabe, solche politischen Akteur*innen hinter Falschmeldungen und Hetze sichtbar zu machen. Aber gibt es auch Erfolge?

Andre Wolf: Ich habe in den vergangenen Jahren oft mit sogenannten „Watch-Blogs“ zusammengearbeitet, die viel Zeit und Herzblut investieren, um solche Akteure sichtbar zu machen. Zur letzten Bundestagswahl konnten wir ein Netzwerk von über 30 großen AfD-Gruppen auf Facebook aufdecken. Hinter diesem Netzwerk standen nur ein, zwei Personen. Auf Basis unserer Recherche hat Die PARTEI diese Gruppen infiltriert, das Netzwerk übernommen und vor der Bundestagswahl schließlich bloßgestellt.

Kultur Joker: Wie gehen rechte Akteur*innen auf Social Media vor?

Andre Wolf: Zunächst wird ein Netzwerk aufgebaut. Innerhalb dieses Netzwerks werden dann bestimmte Kommunikationsstrategien entwickelt. So werden etwa auf bestimmten Seiten oder Profilen Kommentare gepostet, um dort die Stimmung entsprechend den eigenen Interessen zu beeinflussen. Ob in den Kommentarspalten der österreichischen Zeitschrift „Der Standard“ oder bei der Tagesschau: Die rechten Netzwerke mit ihren diversen „Sockenpuppen-Accounts“ (Anm.: Verschiedene Accounts, hinter denen nur eine Person steht) sorgen dafür, dass die Inhalte dort schlechtgeredet werden. Eine Diskussion um Fakten ist dann nicht mehr möglich. Aber das ist auch gar nicht das Ziel.

Kultur Joker: Sondern…?

Andre Wolf: Es geht darum zu stören und etwas schlecht aussehen zu lassen. Dazu kommt die Methode des „Silencing“. Dabei werden bestimmte Personen innerhalb der Kommentare gezielt angegriffen und eingeschüchtert, zum Schweigen gebracht. Die sind aber auch gar nicht die Adressaten, Adressaten sind die Beobachter. Man will für die, die mitlesen, eine große Show inszenieren. Die rechten Accounts sollen eine Mehrheit darstellen, die den scheinbar „richtig“ oder „korrekt“ agierenden Gesprächspartnern überlegen ist. Auf diese
Weisen sollen die Zuschauer dazu bewogen werden, mit der vermeintlichen Mehrheit zu gehen.

Kultur Joker: Ihr Buch macht deutlich: Die Auswahl der Adressat*innen, oder sagen wir „Ziele“ für Hasskommentare stellt für die rechten Netzwerke eine wichtige Aufgabe dar. Als eine Zielgruppe gelten junge, gebildete Frauen. Warum gerade die?

Andre Wolf: Rechtspopulisten inszenieren die traditionelle Familie als Rollenideal. Darin hat die Frau ihre Sorgefunktion und hat nicht zur Universität zu gehen. Erst recht soll sie nicht kinderlos bleiben. Entsprechend sind junge, gebildete, linksliberale Frauen das Feindbild – aber auch Männer mit einem solchen Hintergrund, vor allem wenn sie nicht klassischen Männlichkeitsbildern entsprechen, also zum Beispiel gebrechlich wirken. Dem gegenüber stehen die Accounts der Rechtspopulisten mit oft martialischen Benutzerbildern: Schnelle Autos und kämpferische Posen. Rechte Netzwerke versuchen ihre Feinde mit „Silencing“ einzuschüchtern. Frauen wird oft mit Vergewaltigung gedroht, Männern mit der Vergewaltigung ihrer Kinder und Frauen.

Kultur Joker: Wie begegnet man solchem Hass?

Andre Wolf: Wir müssen Menschen beibringen, wie Social Media eigentlich funktioniert, wie Informationen auf Social Media verbreitet werden. Diese Bildung brauchen junge Menschen, aber auch erwachsene Menschen. Für letztere benötigen wir neue Formate. Wir können Erwachsene nicht in Klassenzimmer stecken, sondern müssen sie auf unterhaltsame Weise dafür interessieren, sich mit den Mechanismen von Social Media auseinanderzusetzen.

Kultur Joker: Wofür es wiederum den Staat braucht.

Andre Wolf: Ja, aber nicht nur die jeweiligen Nationalstaaten. Wir müssen eine europäische Lösung und Forderungen erarbeiten und uns damit an Konzerne wie Facebook oder Twitter
wenden. Ideal wäre eine große, neutrale Schiedsstelle, die staatenübergreifend anerkannt ist und unabhängig funktioniert. Diese Schiedsstelle wäre Schnittstelle zwischen Internetplattform, Staat und den Nutzerinnern und Nutzern, ein Informationszentrum, eine Stelle für Rechtsberatung und psychische Betreuung. Denn viele Menschen sind überfordert, wenn sie zum ersten Mal online mit Hass oder Mobbing in Kontakt kommen. Da braucht es Gesprächsangebote, damit so jemand mit seiner Erfahrung nicht allein bleibt.

Kultur Joker: Ein ziemlich großes Vorhaben.

Andre Wolf: Ich weiß, das kostet viele Ressourcen. Ich frage aber auch: Was ist uns am Ende unsere Demokratie wert? Wie können wir Social Media zu einem Ort machen, an dem wir uns wohlfühlen? Ich persönlich will Social Media nicht verbieten, ich will es weiterentwickeln, damit wir alle daran Spaß haben können.

Kultur Joker: Herr Wolf, herzlichen Dank für das Gespräch!

Andre Wolf, „Angriff auf die Demokratie. Wie Rechtsextremisten die Sozialen Medien unterwandern“, edition a 2021.

Bildquellen

  • Andre Wolf: Foto: Claudia Spiess