Jean-Michel Jarre über sein neues Album „Electronica 2: The Heart Of Noise“

„Die Kunst der Geräusche“

Jean-Michel Jarre (67) bildet auf „Electronica 2: The Heart Of Noise“ ein Team mit niemand geringerem als Edward Snowden (32). Es ist die erste musikalische Kooperation des berühmten Whistleblowers, der seit 2013 inkognito in Russland lebt. Des Weiteren hat Jarre namhafte Kollegen wie Yello, Laurie Anderson, Moby, Hans Zimmer, Primal Scream und die Pet Shop Boys dazu eingeladen, mit ihm ein Konzeptalben einzuspielen – gewissermaßen die DNA der elektronischen Musik. Olaf Neumann traf den Pariser Synthi-Pop-Pionier in Berlin zum Gespräch über Edward Snowdens Fingerabdrücke, die Anschläge von Paris und den Rechtsruck in der Gesellschaft.

Jean Michel Jarre im Interview über Electronica 2

Kultur Joker: Sie haben Ihr Album „Electronics 2: The Heart Of Noise“ Edward Snowden gewidmet. Der weltberühmte Whistleblower spricht darauf ein Manifest. Wie haben Sie das geschafft?
Jean-Michel Jarre: Als Snowden vor ein paar Jahren mit seinen Enthüllungen an die Öffentlichkeit ging, berührte mich das sehr. Meine Mutter war in seinem Alter, als sie sich 1940 der Resistance anschloss. Die Menschen, die damals in den Untergrund gingen, galten bei der restlichen Bevölkerung als Unruhestifter. Aber nach dem Krieg behaupteten plötzlich alle Franzosen, beim Widerstand gewesen zu sein. Meine Mutter war aber keine Unruhestifterin, sie stellte bloß die herrschende Macht infrage. Exakt das tut Edward Snowden heute. Er ist nicht gegen sein Land, sondern er will die Verhältnisse zum Wohle aller verändern. Deshalb ist er für mich ein moderner Held. Ich bewundere ihn für seine Unerschrockenheit. Wir brauchen mehr Leute wie ihn.

Kultur Joker: Wie haben Sie den Kontakt zu ihm hergestellt?
Jean-Michel Jarre: Über den Guardian. Das war die erste Zeitung, die seine Enthüllungen veröffentlichte. Die waren auch ganz fasziniert von meiner Idee und brachten mich mit einer Kontaktperson zusammen. Es kam dann auch tatsächlich zu einer Videokonferenz, bei der ich Snowdon meine Idee schildern konnte. Er mochte die Musik, die mir für seinen Beitrag vorschwebte: Ich wollte sein Statement mit einem schnellen Techno-Track unterlegen. Er sollte die ununterbrochene und hektische Sammelsucht nach Informationen und Daten widerspiegeln – sowie die irrwitzige Jagd nach Edward Snowden durch die mächtigste Organisation der Welt. Ich habe dieses Stück „Exit“ (Ausstieg) getauft.

Kultur Joker: Konnten Sie Ihn denn auch persönlich treffen?
Jean-Michel Jarre: Ja, und zwar vor ein paar Wochen in Moskau. Ich wollte unser Gespräch unbedingt filmen, um es in meine Performance einzubauen. Aus diesem Grund trafen wir uns für drei Stunden und redeten und redeten. Jetzt ist sein Manifest auf meinem Album zu hören: „Jeder Mensch hat ein Recht auf Privatsphäre und Datenschutz. Dagegen zu verstoßen ist eine Verletzung der Menschenrechte“. Das kann ich jetzt insbesondere an junge Leute weitergeben. Die liegen mir nämlich sehr am Herzen, weil sie Populisten wie Donald Trump und Marine Le Pen am ehesten auf den Leim gehen.

Kultur Joker: Welchen Eindruck machte Snowden auf Sie?
Jean-Michel Jarre: Es scheint ihm glücklicherweise ganz gut zu gehen. Er wirkt sehr jugendlich, aber man spürt seine innere Stärke. Ich halte ihn für absolut integer. Es geht ihm nicht darum, jemandem persönlich zu schaden, er tut dies alles allein für sein Land. Snowden ist ein Idealist und Pragmatiker in Personalunion. Dass er einmal in ein kulturelles Projekt involviert sein würde, hätte er sich nicht träumen lassen. Ein Ingenieur wie ich, sagte er mir schmunzelnd, gilt in der Regel nicht als cool. Wir hatten eine gute Zeit zusammen.

Kultur Joker: Was bedeutet er Ihnen persönlich?
Jean-Michel Jarre: Für mein Empfinden verdient er den Friedensnobelpreis. Edward Snowden ist ein Paradebeispiel dafür, wie jemand bestehende Machtverhältnisse auf dynamische und positive Weise infrage stellt mit dem Ziel, das System zu verbessern. Ihn darf auf keinen Fall das gleiche Schicksal ereilen wie den Whistleblower Bradley Manning, der in den USA eine 35-jährige Haftstrafe verbüßt. Ich habe gehört, dass der Chef der CIA Edward Snowden für die Anschläge in Paris mitverantwortlich macht. Die CIA und NSA sollten sich schämen! Sie haben auf der ganzen Linie versagt, indem sie den Terrorismus nicht verhindern konnten. Oder die Panama Papers: Alle finden es toll, was da jetzt alles an die Öffentlichkeit kommt, aber niemand schützt die Whistleblower. Deshalb habe ich mein Album Edward Snowden gewidmet.

Kultur Joker: Glauben Sie, dass Snowden jemals unbehelligt in seine Heimat zurückkehren kann?
Jean-Michel Jarre: Im Moment bestimmt nicht. Aber eines ist sicher: Donald Trump wird nie US-Präsident werden. Die Dinge ändern sich mit der Zeit, hoffe ich jedenfalls. Vielleicht können Leute wie ich dazu ja beitragen. Außerdem wählen wir Bürger diejenigen, die die Macht ausüben sollen. Wir leben schließlich in einer Demokratie. Und deren Zukunft hängt stark von Leuten wie Snowden ab.

Kultur Joker: Haben die Anschläge von Paris Sie politisiert?
Jean-Michel Jarre: Ich war eigentlich schon immer ein politischer Mensch. Was sich durch die Anschläge verändert hat, ist, dass meine Generation jetzt weiß, was Krieg bedeutet. Das kannten bisher nur unsere Eltern und Großeltern. In der Nacht, als die Terroristen zuschlugen, war ich im Studio mit dem großartigen französischen Sänger Christophe. Wir hörten, dass draußen irgendetwas vor sich ging, waren aber zu sehr auf unsere Arbeit konzentriert, um uns davon ablenken zu lassen. Als ich schließlich realisierte, was da geschehen war, war ich bereits auf dem Weg nach Hause. Es war fünf Uhr in der Früh und mir wurde schlagartig klar, dass Frankreich sich im Kriegszustand befand. Überall war Polizei, aber gleichzeitig war Paris totenstill. Es war sehr bizarr und schockierend. Natürlich kenne ich das Bataclan-Theater sehr gut und auch Menschen, die dort ums Leben kamen. Wir Europäer müssen jetzt zusammenhalten, schließlich tragen wir eine Mitverantwortung für die Misere.

Kultur Joker: Die Rechten bekommen in Deutschland und in Frankreich immer mehr Zulauf. Befürchten Sie, dass Marine Le Pen Ihre nächste Präsidentin werden könnte?
Jean-Michel Jarre: Nein. Das ist wie bei Donald Trump: Marine Le Pen und er kriegen allerhöchstens 40 Prozent der Wählerstimmen. Zu mehr wird es bei ihnen niemals reichen. Le Pen wird also auf Allianzen mit anderen Parteien angewiesen sein. Aber in dem Moment verliert sie ihre Glaubwürdigkeit. In dieser Falle sitzt auch Donald Trump. Diese Leute sind natürlich gefährlich, aber nach einer Weile wird sich die Stimmung im Volk gegen sie wenden. Weil sie nicht für, sondern gegen etwas sind. Bedauerlicherweise gibt es derzeit keine kühnen Staatschefs. Beim Radfahren schauen sie alle auf ihre Füße – statt auf die Straße.

Kultur Joker: Sie haben sich von allen Mitwirkenden die Fingerabdrücke geben lassen. Auch von Edward Snowden?
Jean-Michel Jarre: Ja, ich habe auch seine. Er kommentierte das auf sehr witzige Weise: „Das geringste Problem ist für mich, dir meine Fingerabdrücke zu geben. Die haben ja eh schon alle“. (lacht) Ich will sie für eine Ausstellung verwenden, die ich als Nebenprojekt zu den Alben geplant habe. Ich will jeden der eingesammelten Fingerandrücke mit meinen eigenen verschmelzen lassen und davon überdimensionale Prints herstellen lassen. Schauen Sie, dieser graue hier ist meiner und der rote daneben gehört Moby. Auf diese Weise kann ich prima analysieren, was wir gemeinsam haben. Genau darum geht es ja bei diesem Projekt.

Kultur Joker: Wie lange haben Sie an dem zweiteiligen Projekt gearbeitet?
Jean-Michel Jarre: Fast fünf Jahre – und zwar ohne Urlaub. Dieses Jahr wird es auch nicht besser, ich gehe ja mit diesem Projekt auf Tournee. Das hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt, ursprünglich bin ich davon ausgegangen, dass solche Kollaborationen weniger Arbeit machen als herkömmliche Studioalben.
Kultur Joker: Wie haben Sie „Electronica 2: The Heart Of Noise“ konzipiert?
Jean-Michel Jarre: Bevor ich mich mit den Mitstreitern getroffen habe, schrieb ich für jeden einzelnen ein Demo, das noch genug Platz ließ für dessen eigene Ideen. Da ich unbedingt alle persönlich treffen wollte, nahm allein die Organisation eine gefühlte Ewigkeit in Anspruch. Ich habe halt keine Lust, Menschen, denen ich nie begegnet bin, anonyme Files zuzusenden. Das ist mir zu abstrakt. Für mich waren diese Reisen wie Initiationsrituale.

Kultur Joker: Ist Kreativität für Sie wie eine Sucht?
Jean-Michel Jarre: Das ist sie in der Tat. Zu jungen Kollegen sage ich immer, wenn sie im Leben nach Glückseligkeit streben, sollten sie auf keinen Fall Künstler werden. Die Kunst frisst dein Privatleben auf, und du kannst von Glück reden, wenn du einen Partner findest, der für dein merkwürdiges Verhalten Verständnis aufbringt. Abgesehen davon kannst du als kreativer Mensch auch gar nicht anders, als die ganze Zeit zu arbeiten. Ich habe mich fünf Jahre lang Tag und Nacht im Studio eingeschlossen. Ich hätte mich stattdessen auch mit Astrophysik, Fischen, Philosophie oder Reisen beschäftigen können. Aber ich kann nicht anders.
Kultur Joker: Inwieweit hatten Manager und Anwälte bei diesem Projekt ein Wörtchen mitzureden?
Jean-Michel Jarre: Einige der beteiligten Künstler habe ich direkt angeschrieben, bei anderen lief der Erstkontakt übers Management. Alle haben am Ende zugesagt, das war wie ein Wunder.

Kultur Joker: Konnte der deutsche Hollywood-Komponist Hans Zimmer Sie überraschen?
Jean-Michel Jarre: Ja, und zwar aus mehreren Gründen. Zuerst einmal ist er einer der charmantesten Männer, die mir je begegnet sind. Hans Zimmer ist ein großer Poet und zugleich extrem professionell. Er ist verrückt nach Musik und wahrscheinlich der größte Sammler von modularen Synthesizern überhaupt. Ich liebe ihn.

Kultur Joker: Und wie war die Zusammenarbeit mit dem Schweizer Duo Yello?
Jean-Michel Jarre: Yello ist eine fantastische Band, ihre Originalität beeindruckt mich immer wieder. Deshalb standen sie ganz oben auf meiner Wunschliste. Für Yello hatte ich zwei Ideen: Entweder machen wir eine moderne, temporeiche Bearbeitung ihres bekanntesten Songs „The Race“ – oder genau das Gegenteil: nämlich ein ausgesprochen langsames, cooles und sinnliches Stück mit einem gehörigen Schuss Sexappeal. Letztere Idee gefiel Boris und Dieter, als ich sie ihnen bei einem persönlichen Treffen vorschlug. Was sie dann aus meinem Demo machten, ist absolut perfekt mit großartigen Klängen von Boris Blank und einem fantastischen Flow von Dieter Meier. Es heißt „Why This, Why That And Why“. Meier klingt hier wie eine Mischung aus Barry White und Céline Dion. Ich bin überzeugt, bei diesem Projekt habe ich viel dazu gelernt.

Kultur Joker: Was ist das Herz des Geräuschs („The Heart Of Noise“)?
Jean-Michel Jarre: Das sind zuerst einmal all jene Elektroniker, mit denen ich auf diesem Album zusammenarbeite. Darüber hinaus ist „The Heart Of Noise“ eine Anspielung auf den italienischen Visionär Luigi Russolo, der vor 100 Jahren das futuristische Manifest „The Art Of Noises“ (Die Kunst der Geräusche) verfasste. Er hatte schon damals die Vision, dass eines Tages Musiker mit Hilfe moderner Technologie in der Lage sein würden, sämtliche Geräusche des Universums reproduzieren zu können. Und genau das ist ja eingetroffen.

Kultur Joker: Was kann man von Ihrer bevorstehenden Tournee erwarten?
Jean-Michel Jarre: Ich bin gerade dabei, ein modulares Bühnendesign zu entwerfen, mit dem ich sowohl in kleinen als auch größeren Hallen als auch auf Festivals und Open Air-Veranstaltungen auftreten kann. Dazu möchte ich ein 3D-Erlebnis ohne Brille bieten, das geht viel tiefer als mit Brille. Musik ist seit Jahrtausenden eine dreidimensionale Kunstform, es geht dabei um Schwingungen, Raum und ums Hören. Musikalisch habe ich vor, meine Klassiker wie „Oxygene“ und „Equinox“ im Sound von heute zu reproduzieren. Natürlich werde ich auch etwas von den „Electronica“-Alben spielen.

Jean-Michel Jarre „Electronica 2: The Heart Of Noise“ (Sony). Mit Edward Snowden, Gary Numan, Yello, Hans Zimmer, Julia Holter, Primal Scream, Laurie Anderson, Pet Shop Boys, Peaches u. a.

Jean-Michel Jarre »Electronica World Tour“ (Auswahl):
11.07.16 Montreux JazzFestival
16.07.16 Gräfenhainichen, Melt!-Festival
18.11.16 Zürich, Hallenstadion